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Bismillahi-Rahmani-Rahim
Und haltet fest am Seil Allahs allesamt und
spaltet euch nicht !
Dies ist der Befehl Allahs an seine Diener wie Er
ihn uns in Seiner letzten Offenbarung gegeben hat. In einer
Zeit, in der an vielen Orten dieser Welt Muslime gegen Muslime
kämpfen, in der "muslimische Aktivisten" von Moschee zu Moschee
ziehen, um Da´wa (Einladung zum Islam) zu machen, in der
Qur'ankommentare und persönliche Ansichten von Journalisten und
pensionierten Diplomaten als Rechtsquelle akzeptiert werden und in
der die an einer westliche Universität erworbene Doktorwürde
(vorzugsweise in Kernphysik, Chemie, Medizin o.ä.) oder gar eine
Gefängnisstrafe wegen Agitation gegen das despotische Regime eines
muslimischen Landes als höchste Qualifikationsmerkmale islamischer
Gelehrsamkeit gelten, stellt sich dem besorgten Betrachter die Frage
nach der Legitimität oder Authorisierung in Fragen der Auslegung des
göttlichen Gesetzes, von der nicht zuletzt die Art und Weise des "am
Seile Allahs" Festhaltens und damit die Einheit der muslimischen
Gemeinschaft als Ganzes abhängt. Auch wenn uns manch eifriger junger
Muslim, mit Paretscher Qur'anübersetzung und Reclam-Ausgabe von
Bukhari winkend , strahlend verkündet: "Wozu denn einer Rechtsschule
folgen, ich habe doch Qur'an und Sunna", bleibt zumindest auf den
zweiten Blick das ungute Gefühl, daß die so entstehenden
selbstfabrizierten Versionen des göttlichen Gesetzes nicht immer in
allen Punkten mit dem göttlichen Willen konform gehen. Sei es der
Bruder, der mit dem Schwert in der Innenstadt umherläuft um gemäß
Sure 9:5 die Götzenanbeter zu töten, wo immer er sie trifft und in
der Psychiatrie landet; sei es die Schwester, die belegen will, daß
das Bedecken der Haare für Frauen im Islam nicht Pflicht sei, weil
"das so nicht im Qur'an steht"; sei es der "Gelehrte", der die
Ansicht vertritt, das Tragen von Mütze und Turban sei eine
Verwerfliche Neuerung (Bid´a) und behauptet, ein großer Teil der von
Imam Muslim als authentisch klassifizierten Hadithe seien schwach,
unzuverlässig oder gar gefälscht; sei es der neue Bruder, der nach
seiner Beschneidung kein Gebet verrichtet, weil "das Gebet während
der Zeit der Blutung untersagt ist" oder ein anderer, der meint, man
könne ruhig mal einen Joint rauchen, weil im Qur'an ja nur der Wein
verboten sei – irgendwo, könnte man meinen, muß es doch fundiertere
und vielleicht sogar verbindlich gültige Ansichten, Auslegungen oder
Normen dafür geben, wie wir uns auch im Detail dem Willen des
Allmächtigen gemäß verhalten können. Hilfreich könnte für den
interessierten Leser, der hier übersetzte Artikel aus der
englischsprachigen Zeitschrift "An-Naseeha" von ´Abd al-Hakim
Murad, einem Islamwissenschaftler, Historiker und Übersetzer
klassischer Texte aus Großbritannien sein.
Über die vier Rechtsschulen und
die Notwendigkeit einer von ihnen zu
folgen
von
´Abdal Hakim Murad
Aus dem Englischen übersetzt von´Abd al-Hafidh
Wentzel
Die größte Errungenschaft der Ummah im Verlauf des
vergangenen Jahrtausends ist zweifelsohne ihr innerer geistiger
Zusammenhalt gewesen. Vom fünften Jahrhundert nach der Hijra fast
bis in unsere Tage und trotz des äußerlichen Dramas des
Aufeinanderprallens von Dynastien haben die Muslime der Ahl
as-Sunnat wal-Jama'at untereinander beinahe ausnahmslos eine
Haltung von religiösem Respekt und Brüderlichkeit bewahrt. Es ist
eine augenfällige Tatsache, daß sie innerhalb dieser langen, in
vielerlei Hinsicht äußerst schwierigen Periode so gut wie nicht von
religiösen Kriegen, Unruhen oder Verfolgungen gespalten
wurden.
Die
Geschichte religiöser Bewegungen legt nahe, daß dies ein
außergewöhnliches Ergebnis ist. Die gängige soziologische Ansicht,
wie sie von Max Weber und seinen Schülern vertreten wird, ist, daß
Religionen sich einer anfänglichen Phase von Einheit erfreuen und
dann in eine zunehmend heftigere Zersplitterung, angeführt von
rivalisierenden Hierarchien stürzen. Das Christentum hat dafür
sicher das deutlichste Beispiel abgegeben, doch könnte man viele
andere aufzählen, einschließlich sekularer "Glaubensbekenntnisse"
wie dem Marxismus. Auf den ersten Blick ist die Fähigkeit des Islam
dieses Schicksal zu vermeiden erstaunlich und bedarf sorgfältiger
Analyse.
Natürlich gibt es eine einfache und direkte
religiöse Erklärung. Islam ist die letzte Religion, sozusagen "der
letzte Bus nach Hause", und genießt als solche göttlichen Schutz vor
endgültigeren Formen des Verfalls. Es trifft zu, daß das, was ´Abdul
Wadud Schalabi als spirituelle Entropie (Nichtumkehrbarkeit)
bezeichnet hat seit der Einführung des Islam am Werke ist, eine
Tatsache die durch eine Reihe von Hadithen wohl-belegt ist.
Nichtsdestotrotz hat die Vorsehung die Ummah nicht vernachlässigt.
Frühere Religionen rutschen langsam oder von Schmerzen begleitet ab
in Zersplitterung und Bedeutungslosigkeit; während die islamische
Frömmigkeit, wenngleich von schwindender Qualität, Mechanismen
mitbekommen hat, die ihr erlauben, einen Großteil des Sinnes für
Einheit zu bewahren, dem in ihren glorreichen Tagen so große
Bedeutung zugemessen wurde.
Wohin auch immer die grotesken Darbietungen der
Amire und Politiker führen mögen, die Bruderschaft der
Gläubigen, eine Realität in der Anfangsgeschichte des Christentums
und einiger anderer Religionen, besteht auch nach vierzehnhundert
Jahren weiter als zwingendes Prinzip für die meisten Anhänger der
letzten und definitiven Gemeinschaft der Offenbarung im Islam. Der
Grund ist einfach und unwiderlegbar: Gott hat uns diese Religion als
Sein letztes Wort gegeben und deshalb muß sie weiterbestehen,
unangetastet in ihren Grundlagen des Tauhid , Gottesdienstes
und Ethik, bis zu den Letzten Tagen.
Eine
solche Erklärung besitzt offenkundig Vorteile. Doch bleibt darüber
hinaus eine Reihe schmerzliche Ausnahmen aus der frühesten Phase der
Geschichte erklärungsbedürftig. Der Prophet selbst – möge Allah ihm
Segen und Frieden schenken – hatte seinen Gefährten – möge Allah mit
ihnen zufrieden sein – in einem von Imam Tirmidhi überlieferten
Hadith mitgeteilt: "Wer immer von euch mich überleben wird, wird
einen riesigen Disput sehen" .
Dies
ist, genau wie der Prophet – Allahs Segen und Friede über ihm - es
vorhergesagt hatte, eingetreten. Die Spaltungen am Anfang: Die
schreckliche Revolte gegen ´Uthman - möge Allah mit ihm zufrieden
sein – , der Zusammenstoß zwischen ´Ali und Mu'awiyya – möge Allah
mit ihnen beiden zufrieden sein – , die blutige Abspaltung der
Kharijjiten – all dies trieb, fast von Anbeginn, das Messer der
Zwietracht in den Körper der muslimischen Gemeinschaft. Nur die
inherente geistige Klarheit und Liebe zur Einheit unter den
Gelehrten der Ummah konnte – mithilfe göttlicher Intervention – die
frühen Zuckungen des Spaltertums besiegen und schuf eine starke und
harmonische sunnitische Mehrheit , die zumindest auf der rein
religiösen Ebene neunzig Prozent der Ummah für neunzig Prozent ihrer
Geschichte geeint hat.
Das In-Erscheinung-Treten der sunnitischen
Ortodoxie
Irgendwann im vierten und fünften Jahrhundert des
Islam erreignete sich etwas historisch höchst bedeutsames. Das
Sunnitentum trat als ein detailliertes System in Erscheinung, das so
gut ausgearbeitet war und so offensichtlich der Weg der großen
Mehrheit der ´Ulema war, daß die Anziehungskraft
rivalisierender Bewegungen rapide schwand.
Der
sunnitische Islam, in der Mitte zwischen den beiden Extremen des
egalitären Kharijjitentums einerseits und dem
hierarchischenSchi´itentum andererseits, war lange Zeit mit
Diskussionen über sein eigenes Konzept von Authorität beschäftigt
gewesen. Für die Sunniten war Authorität definitionsgemäß im Qur'an
und in der Sunna festgelegt. Jedoch angesichts der enormen
Anzahl von Hadithen, die in verschiedenen Formen und Überlieferungen
nach der Migration der Gefährten und Nachfolger über die Länge und
Breite der islamischen Welt verstreut waren, stellte sich heraus,
daß dieSunna zuweilen schwer zu deuten war. Selbst nachdem
die zuverlässigen Hadithe aus dieser Anzahl von insgesamt einigen
hunderttausend Hadith-Überlieferungen herausgesiebt waren, blieben
einige Hadithe, die zueinander oder sogar zu Versen des Qur'an im
Widerspruch zu stehen schienen. Es war offensichtlich, daß
simplizistische Lösungen wie die der Kharijjiten, nämlich einen
kleinen Corpus von Hadithen zu etablieren und Lehre und Gesetz
direkt daraus abzuleiten, nicht funktionieren konnten. Die inneren
Widersprüche waren zu zahlreich und die darauf gestützten Deutungen
waren zu komplex um die Qadis in die Lage zu versetzen
Urteile zu fällen indem sie einfach den Qur'an und Hadith-Sammlungen
an der entsprechenden Seite aufschlugen.
Prinzipien (Usul ) zur Lösung
textlicher Widersprüche
Die Gründe, die den Fällen offenbar einander
widersprechender offenbarter Texte zugrunde lagen, wurden von den
frühen ´Ulema genauestens untersucht, häufig im Verlauf
fortdauernder Debatten zwischen den brilliantesten Denkern,
ausgestattet mit den perfektesten photografischen Gedächtnissen. Ein
Großteil der Wissenschaft der islamischen Jurisprudenz (Usul
al-Fiqh) wurde entwickelt, um zur Bewältigung derartiger
Widersprüche feststehende Mechanismen zu schaffen, die getreue
Übereinstimmung mit dem grundlegenden Ethos des Islam
gewährleisteten. Der Begriff Ta'arrud al-adilla
("Widersprüchlichkeit der Beweisquellen") ist allen Studenten
islamischer Jurisprudenz als eines der am meisten Sorgfalt
verlangenden und komplexesten aller muslimischen Gesetzeskonzepte
bekannt. Frühe Gelehrte wie Ibn Qutayba sahen sich veranlaßt, diesem
Thema ganze Bücher zu widmen.
Die
´Ulema der grundlegenden Prinzipien (Usul) erkannten
als ihre Ausgangsvoraussetzung an, daß Widersprüche zwischen den
offenbarten Texten nichts weiter als Widersprüche in der Deutung und
keinesfalls Ungereimtheiten in der Botschaft des Gesetzgebers, wie
sie vom Propheten - Allahs segen und Friede sei über ihm –
übermittelt worden war, sein konnten. Die Botschaft des Islam war
vor seinem Dahinscheiden vollkommen überbracht worden; und die
Aufgabe der späteren Gelehrten war ausschließlich die Deutung und
keinesfalls die "Überarbeitung" derselben.
In
diesem Bewußtsein beginnt der islamische Gelehrte, wenn er einen
problematischen Text untersucht mit einer Reihe von akademischen
Voruntersuchungen und Lösungsmethoden. Das von den frühen ´Ulema
entwickelte System besteht darin, daß der Gelehrte, wenn sich
zwei Qur'an- oder Hadithtexte zu widersprechen scheinen, zuerst eine
sprachliche Analyse der Texte vornimmt, um festzustellen, ob der
Widerspruch einem Fehler in der Interpretation des Arabischen
entspringt. Wenn der Widerspruch dadurch nicht gelöst werden kann,
muß er versuchen, anhand einer Reihe von text-, rechts- und
geschichts-spezifischen Techniken festzustellen, ob einer der beiden
Texte Gegenstand von takhsis , das heißt: nur bestimmte
Umstände betreffend, ist und deshalb eine spezielle Ausnahme von dem
in dem anderen Text zum Ausdruck gebrachten allgemeineren Prinzip
darstellt. Darüber hinaus muß der Jurist den textspezifischen Status
des Berichts in Betracht ziehen, indem er sich das Prinzip ins
Gedächtnis ruft, daß ein Qur'anvers ein Hadith aufhebt, das nur mit
einer Isnad (die Art von Hadith, die als Ahad bekannt
ist) überliefert ist, genau wie dies ein Hadith das von vielen Isnad
(mutawatir oder maschhur ) überliefert ist, tut. Sieht
der Jurist, nach Anwendung all dieser Mechanismen, daß der
Widerspruch immer noch weiterbesteht, muß er untersuchen, ob einer
der beiden Texte Gegenstand einer förmlichen Aufhebung (Abrogation,
arab.:Naskh ) durch den anderen ist.
Das Prinzip der Abrogation(Naskh
)
Das Prinzip des Naskh ist ein Beispiel
dafür, wie die Sunni-´Ulema bei der Behandlung des heiklen
Themas Ta'arrud al-adilla ihren Ansatz auf eine Art von
Umgang mit Textaussagen gründeten, die schon viele Male zu Lebzeiten
des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – Anwendung
gefunden hatte. Die Gefährten wußten durch ´Ijma, daß während
der Jahre in denen der Prophet seine Botschaft überbrachte, in denen
er sie lehrte und schulte und sie von der Wildheit des Heidentums
zum nüchternen und barmherzigen Weg des Monotheismus führte, diese
Lehre Gegenstand göttlicher Formung entsprechend ihrem
Entwicklungstempo gewesen war. Der wohl bekannteste Fall davon war
das stufenweise Verbot des Weines, dessen Genuß in einem frühen
Qur'anvers als unbeliebt, in einem späteren als verwerflich und
schließlich als verboten bezeichnet wurde. Ein anderes, ein noch
grundlegenderes Prinzip berührendes Beispiel ist das des rituellen
Gebetes (Salaat), welches für die frühe Ummah nur zweimal
täglich Pflicht gewesen war, nach der Mi'raj jedoch fünfmal
täglich zur Pflicht wurde. Mut'a (Heirat auf Zeit) war in den
frühenTagen des Islam erlaubt gewesen, wurde aber schließlich
verboten, nachdem die sozialen Bedingungen sich entwickelt, der
Respekt für Frauen zugenommen und die Moral sich gefestigt hatten.
Es gibt ein ganze Reihe solcher Fälle, die meisten lassen sich auf
die Jahre unmittelbar nach der Hijra datieren, in denen sich die
Situation der jungen Ummah radikal wandelte.
Es
existeren zwei Formen von Naskh : explicit (sarih )
oder implicit (dimni ). Die erste ist leicht zu erkennen,
weil sie Texte betrifft, die selbst zum Ausdruck bringen, daß eine
frühere Regelung geänder wird. Zum Beispiel gibt es im Qur'an einen
Vers (2:142) der den Muslimen befiehlt sich beim Gebet der Ka´aba
zuzuwenden statt nach Jerusalem. In der Hadithliteratur findet man
diesen Fall noch viel häufiger. Zum Beispiel lesen wir in einem von
Imam Muslim überlieferten Hadith: "Ich hatte euch verboten ,
Gräber zu besuchen; doch nun sollt ihr sie besuchen." Als
Kommentar hierzu erklären die ´Ulema der Hadith, daß in der
Frühzeit des Islam, als die Praktiken der Götzenanbetung noch frisch
im Gedächtnis der Menschen waren, das Besuchen von Gräbern verboten
worden war, in der Befürchtung, daß einige neue Muslime dort
Schirk begehen könnten. Nachdem aber die Muslime in ihrem
Verständnis von Tauhid gestärkt und dieser in ihrem
Bewußtsein und ihren Herzen fest verwurzelt war, wurde dieses Verbot
als nicht länger notwendig aufgegeben, so daß es heute empfohlene
Praxis für die Muslime ist, Gräber zu besuchen um für die
Verstorbenen zu beten und ans Jenseits erinnert zu
werden.
Die
andere Form des Naskh ist subtiler und forderte den
Scharfsinn der frühen ´Ulema oft bis an ihre Grenzen heraus.
Dabei handelt es sich um Texte, die frühere aufheben oder
modifizieren, ohne im Text selbst darzulegen, daß dies der Fall ist.
Die ´Ulema haben dafür eine Vielzahl von Beispielen gegeben,
einschließlich der zwei Verse in Surat al-Baqara die
unterschiedliche Anweisungen bezüglich der Zeitspanne angeben,
während derer Witwen (nach dem Tode ihres Mannes) aus dem Nachlaß
unterhaltsberechtigt sind (2:240 und 234).
Und
in der Hadithliteratur gibt es das Fallbeispiel in dem der Prophet -
Allahs Segen und Friede sei über ihm - als er von Krankheit
gezwungen im Sitzen betete, die Gefährten aufforderte, ebenfalls im
Sitzen hinter ihm zu beten. Dieses Hadith wird von Imam Muslim
überliefert. Und doch finden wir ein anderes Hadith, ebenfalls bei
Imam Muslim, welches einen Fall belegt, in dem die Gefährten stehend
hinter dem Propheten – der Segen Allahs und Sein Friede seien auf
ihm – beteten, währen dieser das Gebet sitzend verrichtete. Der
offenbare Widerspruch wurde durch eine sorgfältige Analyse der
Chronologie gelöst, welche zeigte, daß der zuletzt genannte Fall
nach dem erstgenannten stattfand und deshalb darüber Vorrang
genießt. Solches wird im Fiqh der großen Gelehrten in
passender Weise gewürdigt.
Die
Techniken zur Identifizierung von Naskh haben die ´Ulema
in die Lage versetzt, den größten Teil der erkannten Fälle
von ta'arrud al-adilla zu lösen. Sie verlangen nicht nur
umfassende und detaillierte Kenntnisse der verschiedenen
Hadith-Wissenschaften sondern ebenso viel Wissen in den Bereichen
Geschichte, Sirah , bezüglich der von den Gefährten und
anderen Gelehrten vertretenen Ansichten und der Umstände bei der
Entstehung und Exegese der betreffenden Hadithe. In manchen Fällen
sahen sich Hadith-Gelehrte veranlaßt, von einem Ende der islamischen
Welt zum anderen zu reisen, um in den Besitz der notwendigen
Informationen ein einziges Hadith betreffend zu
gelangen.
In
Fällen, in denen trotz all dieser Bemühungen eine Abrogation nicht
nachzuweisen ist, sahen die ´Ulema der Salaf weitere
Untersuchungen als nötig an. Von Bedeutung ist dabei besonders die
Analyse des Matn (der überlieferte Text im Gegensatz zur
Isnad des Hadith). "Klare" (Sarih ) Feststellungen genießen
Vorrang gegenüber "indirekten" (kinaya ) und "definitive"
(muhkam ) Aussagen wird der Vorrang vor zweifelhafteren
Kategorien wie "interpretiert" (mufassar ), "obskur" (khafi )
und "problematisch" (muschkil) gegeben. Es kann sich auch als
notwendig erweisen, die Position der Überlieferer von einander
widersprechenden Hadithen genauer zu betrachten, um dem Bericht
desjenigen den Vorzug zu geben, der direkter beteiligt
war.
Ein berühmtes Beispiel dafür ist das Hadith,
überliefert von Maymuna – möge Allah mit ihr zufrieden sein – das
besagt, daß der Prophet – Allahs Segen und Friede sei über ihm –
sich nicht im Weihezustand (Ihram ) für die Pilgerfahrt
befand als er sie heiratete. Weil ihr Bericht der einer Augenzeugin
war, wurde ihrem Hadith Vorrang vor dem dazu im Widerspruch
stehenden des Ibn ´Abbas – möge Allah mit ihm zufrieden sein -
gegeben, welches mit einer ähnlich zuverlässigen Isnad
besagt, der Prophet – der Segen Allahs und Sein Friede sei auf
ihm – sei zu jenem Zeitpunkt tatsächlich im Zustand des Ihram
gewesen.
Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Regeln, wie
beispielsweise die Aussage :"Verbot geht vor Erlaubnis ".
Ebenso können Widersprüche zwischen Hadithen gelöst werden, indem
man auf die Fatwa eines der Gefährten – möge Allah mit ihnen
zufrieden sein – zurückgreift, nachdem man sich vergewissert hat,
daß alle relevanten Fatwas verglichen und berücksichtigt
wurden. Schließlich mag man Qiyas (Analogie) anwenden. Ein
Beispiel dafür sind die vielfältigen Berichte über das Gebet bei
Sonnenfinsternis (Salât ul-khusuf ), die verschiedene Anzahl von
Beugungen und Niederwerfungen spezifizieren. Nach genauester
Untersuchung der Berichte haben die ´Ulema , nachdem alle
oben erwähnten Mechanismen keine Lösung der Widersprüche gebracht
hatten, den Analogieschluß angewandt, indem sie schlossen, daß, da
das fragliche Gebet immer noch als Salât bezeichnet wird, die
übliche Form von Salât eingehalten werden solle, nämlich eine
Beugung und zwei Niederwerfungen. Die übrigen Hadithe sollen nicht
mehr in Betracht gezogen werden.
Imam Schafi´î’s Methode zur Konflikt-Lösung
bei Quellentexten
Diese sorgfältige Artikulation der Methoden zur
Lösung von Widersprüchen bei Quellentexten, – so lebenswichtig für
die exakte Ableitung der Schari´ah aus den offenbarten
Quellen – , verdanken wir in erster Linie dem Schaffen des Imam
Schafi´i. Konfrontiert mit der Verwirrung und der Uneinigkeit seiner
zeitgenössischen Juristen und entschlossen, eine schlüssige
Methodologie festzulegen, die die Etablierung eines Fiqh
ermöglichte, in dem die Gefahr von Fehlern so weit wie
menschenmöglich ausgeschlossen war, schrieb Schafi´îsein brilliantes
Risala (Abhandlung der islamischen Rechtslehre). Seine Ideen wurden
in unterschiedlicher Art und Weise von Juristen der wichtigsten
anderen Gesetzesschulen übernommen und heute sind sie grundlegender
Bestandteil bei der formellen Anwendung der Schari´ah
.
Schafi´î’s System zur Vermeidung von Fehlern bei
der Ableitung von islamischen Regeln aus der Vielzahl der
Beweisquellen wurde bekannt als Usul al-fiqh (die "Wurzeln
des Fiqh"). Ebenso wie die übrigen formalen akademischen
Wissenschaftszweige des Islam war dies keine Neuerung im negativen
Sinne, sondern ein Herausarbeiten von Prinzipien, die bereits zur
Zeit der frühesten Muslime erkennbar waren. Im Laufe der Zeit
kodifizierte jede der großen Rechtsschulen ihre eigene Form dieser
"Wurzeln", die in manchen Fällen auseinanderstrebende "Zweige"
hervorbrachten (d.h. unterschiedliche praktische Regelungen). Doch
wenn auch die Debatten, die von diesen Abweichungen ausgelöst wurden
gelegentlich recht energisch geführt wurden, waren sie bedeutungslos
verglichen mit den großen sektiererischen und das Gesetz
betreffenden Auseinandersetzungen, die während der ersten zwei
Jahrhunderte des Islam stattgefunden hatten, bevor die Wissenschaft
der Usul al-fiqh dieser chaotischen Uneinigkeit ein Ende
machte.
Es bedarf kaum der Erwähnung, daß, obwohl die vier
Imame Abu Hanifa, Malik ibn Anas, asch-Schafi´îund Ibn Hanbal als
Gründer dieser vier großen Rechtsschulen betrachtet werden, die wir,
nach einer Definition gefragt zusammenfassend als "ausgefeilte
Techniken zur Vermeidung von Neuerungen" bezeichnen könnten, ihre
Rechtsschulen erst von späteren Generationen von Gelehrten bis zur
Vollkommenheit systematisiert wurden. Die sunnitischen ´Ulema
erkannten schnell die Exzellenz der vier Imame und gegen Ende
des dritten Jahrhunderts des Islam finden wir kaum einen Gelehrten
der einer anderen Schule folgt. Die großen Hadith-Spezialisten,
einschließlich al-Buchari und Muslim waren allesamt loyale Anhänger
des einen oder anderen Madhhab , speziell desjenigen des Imam
Schafi´i.
Die Verfeinerung der einzelnen
Madhhabs
Innerhalb eines jeden Madhhab jedoch
arbeiteten die führenden Gelehrten weiter an der Verbesserung und
Verfeinerung der "Wurzeln" und "Zweige" ihrer jeweiligen Schule. In
manchen Fällen machte die historische Situation dies nicht nur
möglich sondern notwendig. Zum Beispiel waren Gelehrte der Schule
des Abu Hanifa, die auf den frühen Gesetzesschulen von Kufa und
Basra aufbaute, in Bezug auf einige Hadithe die im Iraq in Umlauf
waren wegen der Häufigkeit von Fälschungen, hervorgerufen durch den
dort starken sektiererischen Einfuß, sehr vorsichtig. Später jedoch,
nachdem die authorisierten Sammlungen von Bukhari, Muslim und
anderen erhältlich waren, zogen folgende Generationen von
Hanafi-Gelehrten zur Formulierung und Überarbeitung ihres Madhhab
den gesamten Korpus von Hadithen in Betracht. Diese Art von
Prozeß dauerte zwei Jahrhunderte bis die Rechtsschulen im vierten
und fünften Jahrhundert nach der Hijra einen Reifezustand erreicht
hatten.
In
dieser Zeit war es auch, daß eine Haltung von Tolereanz und
wohlwollendem Respekt unter den Rechtsschulen von allen Seiten
akzeptiert wurde. Dies wurde von Imam al-Ghazali formuliert, selbst
Verfasser von vier Textbüchern in Schafi´îFiqh und Autor des
al-Mustasfa, welches von vielen als das am weitesten entwickelte und
exakteste aller Werke der Usul al-Fiqh angesehen wird. In
seinem wohlbekannten Bemühen um Aufrichtigkeit und seiner Abscheu
vor Zurschaustellung von Rivalitäten unter den Gelehrten verurteilte
er aufs Schärfste was er als "fanatische Anhängerschaft an einen
Madhhab " bezeichnete. (Ihya ´Ulum ad-Din, !!!.65.) Während
es eineseits für den Muslim notwendig ist, einem anerkannten
Madhhab zu folgen um die tödliche Gefahr einer
Fehlinterpretation der Quellen zu vermeiden darf er doch nicht in
die Falle gehen, seine eigene Rechtschule als grundsätzlich den
anderen überlegen zu betrachten. Von wenigen unbedeutsamen Ausnahmen
abgesehen sind die großen Gelehrten des sunnitischen Islam diesem
von Imam al-Ghazali vorgegebenen Ethos gefolgt und haben ein jeder
dem Madhhab des anderen auffallenden Respekt erwiesen. Diese
Tatsache werden all diejenigen die bei traditionellen ´Ulema
studiert haben bestätigen können.
Die
Entwicklung der Vier Schulen lähmte nicht, wie manche Orientalisten
behaupten, die Fähigkeit zur Verfeinerung und Ausweitung des
positiven Rechts. Im Gegenteilstanden damit ausgeklügelte
Mechanismen zur Verfügung, die qualifizierte Personen nicht nur in
die Lage versetzten, die Scharia selbständig aus dem Qur'an
und der Sunna abzuleiten, sondern sie sogar eben dazu
verpflichteten. Nach der Auffassung der überwiegenden Meinung der
Gelehrten ist es einem Experten, der die Quellen vollständig
gemeistert hat und eine Reihe von wissenschaftlichen Vorbedingungen
erfüllt, nicht gestattet, den vorliegenden Bestimmungen seiner
Rechtsschule zu folgen, sondern er muß diese selbst aus den
offenbarten Quellen ableiten. Eine solche Person bezeichnet man als
Mujtahid , ein Begriff der auf ein bekanntes Hadith von
Mu´adh ibn Jabal zurückgeführt wird.
Wer ist qualifiziert Ijtihad zu
machen?
Kaum jemand wird wohl ernsthaft bestreiten wollen,
daß ein Muslim, der sich jenseits des Bereiches der
Expertenmeinungen wagt und selbst direkt auf Qur'an und Sunna
Bezug nimmt, ein Gelehrter von großer Eminenz sein muß. Die
Gefahr, daß Menschen die Quellen mißverstehen und so der
Schari´ah schaden zufügen ist äußerst real, wie die
Zwistigkeiten und Streitigkeiten gezeigt haben, die einen Teil der
frühen Muslime in der Zeit vor der Etablierung der orthodoxen
Rechtsschulen plagten. Ganze Religionen waren in vorislamischer Zeit
von unsachgemäßem Schriftgelehrtentum zu Fall gebracht worden und es
war lebenswichtig, daß der Islam vor einem vergleichbaren Schicksal
bewahrt würde.
Um die Schari´ah vor der Gefahr von
Neuerungen und Verzerrungenzu schützen legten die großen Gelehrten
der Usul rigorose Bedingungen für denjenigen fest, der für
sich das Recht auf Ijtihad in Anspruch nehmen wollte. Diese
Bedingungen beinhalten:
(a) Vollkommene Kenntnis der arabischen Sprache, um
die Möglichkeit der Mißinterpretation der Offenbarung aus rein
sprachlichen Gründen zu minimieren;
(b) Profunde Kenntnis des Qur'an und der Sunna und
der Begleitumstände der Offenbarung jedes Verses und jedes Hadith,
gepaart mit vollständiger Kenntnis der Qur'an- und Hadith-Kommentare
sowie Beherrschung aller oben genannten
Interpretationstechniken;
(c) Kenntnis der spezialisierten
Hadithwissenschaften wie z.B. der Bewertung von Überlieferern und
Matn ;
(d) Kenntnis der Ansichten der Prophetengefährten –
möge Allah mit ihnen zufrieden sein – , ihrer Nachfolger und der
großen Imame, und der Positionen und Begründungen wie sie in den
Textbüchern des Fiqh dargelegt sind, sowie, damit verbunden,
Kenntnis der Fälle in denen eine Übereinstimmung (Ijma)
erreicht worden ist;
(e) Kenntnis des Wissenschaftszweiges der
Gesetzesverfahren betreffenden Analogie (Qiyas), ihrer Arten
und Voraussetzungen;
(f) Kenntnis der eigenen Gesellschaft und der
öffentlichen Interessen (Maslaha );
(g) Wissen betreffs der allgemeinen Zielsetzungen
(Maqasid ) der Schari´ah ;
(h) Ein hohes Maß an Intelligenz und persönlicher
Frömmigkeit, verbunden mit den islamischen Tugenden Barmherzigkeit,
Höflichkeit und Bescheidenheit.
Ein Gelehrter, der diese Bedingungen erfüllt, kann
als Mujtahid fi sch- Schar´ bezeichnet werden und er ist
nicht verpflichtet – es ist ihm sogar nicht einmal gestattet – einem
der bestehenden authorisierten Madhhabs zu folgen. Dies ist,
was einige der Imame sagten, als sie ihren Meisterschülern
untersagten, sie unkritisch zu imitieren.
Für die viel größere Anzahl der Gelehrten jedoch,
deren Expertentum nicht solch schwindelerregende Höhen erreicht, ist
es möglich, ein Mujtahid fi'l Madhhab zu werden, das heißt,
ein Gelehrter, der im Großen und Ganzen an den Lehren seiner
Rechtsschule festhält, jedoch qualifiziert ist, innerhalb dieser von
überkommenen Ansichten abzuweichen. Es gibt eine große Anzahl von
Beispielen solcher Männer, wie zum Beispiel Imam an-Nawawi unter den
Schafiîten, Qadi Ibn ´Abd al-Barr unter den Malikiten, Ibn ´Abidin
unter den Hanafiten oder Ibn Qudama unter den Hanbaliten. All diese
Gelehrten betrachteten sich selbst als Anhänger der fundamentalen
Interpretationsgrundsätze ihres jeweiligen Madhhabs , jedoch
wird von einer Vielzahl von Fällen berichtet, in denen sie ihre
Fähigkeiten als Gelehrte und ihr Urteilsvermögen nutzten und so zu
neuen Verdikten innerhalb ihrer Rechtsschule kamen. An diese
Experten war auch der Rat der Mujtahid-Imame wie Imam Schafî´is
Anweisung "wenn Du ein Hadith findest, das meinem Urteil
widerspricht, so folge dem Hadith" bezüglich Ijtihad
gerichtet. Es ist offensichtlich – was auch immer einige Autoren
heutzutage glauben machen möchten – , daß solche Ratschläge niemals
für den Gebrauch der islamisch-ungebildeten Massen bestimmt
waren.
Weitere Kategorien von Mujtahids werden von
den Gelehrten der Usul aufgeführt, doch sind die
Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen feiner und für unser Thema
eher unbedeutend. Sie lasssen sich in der Praxis auf zwei Kategorien
reduzieren: Den Muttabi´ ("Nachfolger"), der seinem
Madhhab folgt und sich dabei der qur'anischen Quellen und
Hadith-Texte sowie der den jeweiligen Positionen zugrundeliegenden
Erklärungen bewußt ist; und zweitens den Muqallid
("Nachahmer"), der dem Madhhab einfach aufgrund seines
Vertrauens in seine Gelehrten folgt, ohne unbedingt die
detaillierten Erklärungen für all seine tausenden von Regeln zu
kennen.
Warum man ein Muqallid (Anhänger
eines Madhhab ) sein sollte
Natürlich ist es jedem Muqallid empfohlen,
so viel wie ihm oder ihr möglich von den formellen Belegtexten
seines Madhhab zu lernen. Doch ebenso natürlich ist, daß
nicht jeder Muslim ein (Rechts-)Gelehrter sein kann. Das Studium der
Rechtswissenschaft ist mit großen Zeitaufwand verbunden und damit
die Ummah ordnungsgemäß funktionieren kann, ist es notwendig, daß
die Mehrzahl der Menschen einer anderen Beschäftigung wie z.B.
Buchhalter, Militär, Metzger etc. nachgehen. Als solchen kann man
von ihnen vernünftigerweise nicht erwarten, daß sie allesamt große
´Ulema werden, selbst wenn wir davon ausgingen, daß sie alle
über die erforderliche Intelligenz verfügen. Im heiligen Qur'an
selbst wird festgelegt, daß weniger gut informierte Gläubige sich an
qualifizierte Fachleute wenden sollen:
"So fragt die Leute der Erinnerung, wenn ihr
nicht wißt " (16:43).
Den Tafsir-Experten zufolge sind mit
"Leute der Erinnerung" die ´Ulema gemeint. Und in
einem anderen Vers wird es den Muslimen zur Pflicht gemacht, eine
Gruppe von Spezialisten zu schaffen und aufrecht zu erhalten, die
für die authorisierte Führung der Nicht-Spezialisten sorgen
sollen:
"Warum bricht nicht aus jeder Gemeinde eine
Gruppe auf, auf daß sie Wissen in der Religion erlangen und es ihren
Leuten verkünden, wenn sie zu ihnen zurückkehren, auf daß sie sich
in Acht nehmen "
In Betracht des hohen Grades an Kenntnissen, die
zum exakten Verständnis der offenbarten Texte notwendig sind und der
eindringlichen Warnungen, die uns vor Verzerrungen der Offenbarung
gegeben wurden, ist es offensichtlich, daß einfache Muslime
verpflichtet sind, der Meinung von Fachleuten zu folgen statt sich
auf ihre eigenen Deutungen und ihr eigenes begrenztes Wissen zu
verlassen. Diese offenkundige Verpflichtung war den frühen Muslimen
bestens vertraut: Der Khalif ´Umar - möge Allah mit ihm zufrieden
sein – folgte bestimmten Regelungen Abu Bakrs – möge Allah mit ihm
zufrieden sein - indem er sagte "Ich würde mich vor Allah schämen
von der Ansicht Abu Bakrs abzuweichen. " Und Ibn Mas´ud, - möge
Allah mit ihm zufrieden sein – obwohl er ein Mujtahid im
vollen Sinne des Wortes war, folgte in bestimmten Angelegenheiten
´Umar - möge Allah mit ihm zufrieden sein. Al-Scha´bi berichtet:
"Sechs der Prophetengefährten - möge Allah mit ihnen zufrieden sein
– pflegten den Leuten Fatwas zu geben: Ibn Mas´ud, ´Umar ibn
al-Khattab, ´Ali, Zayd ibn Thabit, ´Ubayy ibn Ka´b und Abu Musa
al-Asch´ari. Unter diesen waren drei, die ihr eigenes Urteil
zugunsten des Urteils eines anderen aufzugeben pflegten: ´Abdullah
ibn Mas´ud gab sein Urteil zugunsten des Urteils von ´Umar auf, Abu
Musa gab sein Urteil zugunsten des Urteils ´Alis auf und Zayd gab
sein Urteil zugunsten des Urteils ´Ubayy ibn Ka´bs auf - möge Allah
mit ihnen allen zufrieden sein.
Diese Aussage, nämlich daß man gut beraten ist,
einem der großen Imame als Führer in Sachen der Sunnah zu folgen
statt sich auf sich selbst zu verlassen, gilt umsomehr für Muslime
in Ländern wie Großbritannien, unter denen nur ein kleiner
Prozentsatz für sich das Recht beanspruchen kann, in dieser
Angelegenheit eine Wahl zu treffen. Der einfache Grund ist, daß,
wenn man nicht Arabisch kann, man nicht in der Lage ist, alle eine
bestimmte Angelegenheit betreffenden Hadithe zu lesen, selbst wenn
man es möchte. Aus verschiedenen Gründen, darunter ihrem großen
Umfang, liegen nicht mehr als zehn der bedeutenden Hadith-Sammlungen
in englischer Übersetzung vor. Es bleiben weit über dreihundert
andere Sammlungen, unter ihnen solch grundlegende Werke wie das
Musnad des Imam Ahmed ibn Hanbal, das Musannaf des Ibn Abi Schayba,
das Sahih des Ibn Khuzayma, das Mustadrak des al-Hakim und eine
große Zahl anderer vielbändiger Sammlungen, die viele authentische
Hadithe enthalten, die nicht in Bukhari, Muslim und den anderen
bisher übersetzten Werken zu finden sind.
Selbst wenn wir davon ausgehen, sämtliche
vorliegenden Übersetzungen seien vollkommen fehlerfrei, muß uns doch
klar werden, daß eine Vorgehensweise, die die Schari´ah
direkt aus dem Buch und der Sunnah abzuleiten versucht, nicht
von Leuten in die Tat umgesetzt werden kann, die keinen Zugang zum
Arabischen besitzen. Der Versuch die Schari´ah ausschließlich
auf der Grundlage der übersetzten Hadithe festzulegen, hieße einen
großen Teil der Sunnah zu ignorieren und zu amputieren, mit
dem Resultat gefährlicher Verfälschungen.
Hier möchte ich dafür nur zwei Beispiele nennen.
Die sunnitischen Madhhabs legen in ihren Regeln zur
Durchführung von Gerichtsverfahren das Prinzip fest, daß die
kanonischen Strafen (Hudud) in Fällen, in denen die geringste
Unklarheit besteht, nicht angewendet werden sollen, und daß der
Qadi sich aktiv darum bemühen soll, nachzuweisen, daß solche
Unklarheiten bestehen. Ein Amateur wird beim Studium der
"Authentischen Sechs" Überlieferungen keine Bestätigung dafür
finden. Und doch stützt sich diese Madhhab -Regel auf ein
Hadith mit zuverlässiger Überliefererkette, festgehalten im Musannaf
des Ibn Abi Schayba, dem Musnad des al-Harithi und dem Musnad des
Musaddad ibn Musarhad. Der Text lautet: "Wendet die Hudud ab mit
Hilfe von Unklarheiten ". Imam al-Sana´ani gibt in seinem Buch
Al-Ansab die Umstände der Überlieferung dieses Hadith wieder: "
Ein Mann wurde betrunken aufgegriffen und vor ´Umar gebracht, der
anordnete, daß die Hadd von achzig Schlägen an ihm vollzogen
werde. Nachdem dies geschehen war, sagte der Mann: "´Umar, du hast
mir unrecht getan! Ich bin ein Sklave!" (Sklaven erhalten nur die
Hälfte der Strafe.) ´Umar war daraufhin verzweifelt vor Schuldgefühl
und rezitierte das Hadith des Propheten – Allahs Segen und Friede
sei über ihm –: "Wendet die Hudud ab mit Hilfe von
Unklarheiten" "
Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die
wichtige, von den Madhhabs anerkannte Praxis, das
Sunnah-Gebet so schnell wie möglich nach dem Maghrib-Pflichtgebet zu
verrichten. Das Hadith lautet: "Beeilt euch, die zwei Rak´at nach
dem Maghrib zu verrichten, denn sie werden gemeinsam mit dem
Pflichtgebet (zum Himmel) emporgetragen! " Das Hadith wird von
Imam Razin in seinem Jami´ überliefert.
Wegen ihrer traditionellen, tiefer Frömmigkeit
entspringenden Furcht vor einer Verfälschung des göttlichen Gesetzes
hat die überwältigende Mehrheit der großen Gelehrten der
Vergangenheit - sicherlich weit über neunundneunzig Prozent – loyal
an einem Madhhab festgehalten. Es ist wahr, daß im von Wirren
geplagten vierzehnten Jahrhundert eine Handvoll von Abweichlern
auftauchte, wie Ibn Taymiyya und Ibn al-Qayyim; doch selbst diese
Personen empfahlen niemals, daß halb-gebildete Muslime versuchen
sollten, Ijtihad zu unternehmen Selbst wenn diese Autoren in
letzter Zeit "wiedererweckt" und zu Berühmtheiten gemacht worden
sind, ist ihr Einfluß auf das traditionelle Gelehrtentum des
klassischen Islam zu vernachlässigen, wie schon die geringe Anzahl
von Manuskripten ihrer Werke in den großen Bibliotheken der
islamischen Welt verrät.
Die derzeit gängige Stimmungmache gegen die
Rechtsschulen
Trotz alledem haben gesellschaftliche Turbulenzen
eine Reihe von Autoren emporgebracht, die die Aufgabe authorisierten
Gelehrtentums fordern. Die prominentesten Figuren in dieser Kampagne
waren Muhammad Abduh und sein Schüler Muhammad Raschid Rida.
Beeindruckt vom Triumph des Westens und in subtiler Weise geleitet
von ihrer eigenen wohldokumentierten Verpflichtung zum Freimaurertum
riefen sie die Muslime auf, die "Fesseln des Taqlid "
abzuwerfen und die Autorität der vier Rechtsschulen nicht länger
anzuerkennen.
Heutzutage ist es in einigen arabischen
Hauptstädten, besonders dort wo die ursprüngliche Tradition
orthodoxer Gelehrsamkeit geschwächt ist, an der Tagesordnung, junge
Araber zu sehen, die ihre Wohnungen mit allen irgendwo greifbaren
Hadith-Sammlungen vollstopfen und über diesen brüten, offensichtlich
in dem Glauben, daß sie einer Fehlinterpretation dieser unermesslich
großen und komplexen Literatur weniger leicht anheimfallen als Imam
Schafi´i, Imam Ahmad und die anderen großen Imame.
Es fällt nicht schwer vorherzusagen, daß dieses
verantwortungslose Vorgehen, auch wenn es noch nicht überall
verbreitet ist, stark divergierenden Ansichten Tor und Tür öffnet,
die in gefährlicher Weise die Einheit, Glaubwürdigkeit und
Effektivität der islamischen Bewegung schädigt und harte
Auseinandersetzungen über Fragen provoziert, die von den großen
Imamen vor über tausend Jahren geklärt wurden.
Es ist heutzutage nichts ungewöhnliches mehr, junge
Aktivisten bei ihren Streifzügen durch die Moscheen zu sehen, auf
denen sie andere Gläubige für das kritisieren, was sie für Fehler in
deren Gebetsformen halten, selbst wenn ihre Opfer dabei dem Urteil
eines der großen Imame des Islam folgen.
Die dabei erzeugte unerfreuliche, pharisäierhafte
Atmosphäre führt dazu, daß viele weniger engagierte Muslime
überhaupt nicht mehr zur Moschee kommen. Keiner scheint sich an die
Ansicht der frühen ´Ulema zu erinnern, daß die Muslime
unterschiedliche Interpretationen der Sunnah tolerieren sollten,
solange diese Interpretationen von angesehenen Gelehrten vertreten
werden. Wie Sufyan ath-Thauri sagte: " Wenn du jemanden etwas tun
siehst, worüber unter den Gelehrten unterschiedliche Ansichten
bestehen und was du selbst für verboten hältst, solltest du ihm
nicht verbieten, es zu tun. " Die Alternative zu diesem Vorgehen
ist klar ersichtlich eine Uneinigkeit und Zwietracht, die die
Gemeinschaft der Muslime von Innen her vergiften
wird.
In einer westlich geprägten globalen Kultur, in der
die Menschen von Kindesbeinen an aufgefordert werden, "für sich
sellbst zu denken" und jede Art von bestehender Authorität in Frage
zu stellen, kann es gelegentlich schwerfallen, genug Demut
aufzubringen um seine eigenen Grenzen zu erkennen.
Wir alle sind wie kleine Pharaonen: unsere Egos
sind von Natur aus immun gegen die Vorstellung, jemand anderes
könnte wesentlich intelligenter oder gebildeter sein als wir selbst.
Der Glaube, daß einfache Muslime, selbst wenn sie nicht einmal
Arabisch können, qualifiziert sind selbständig Regeln der
Schari´ah abzuleiten ist geradezu ein Paradebeispiel für
diese amoklaufende Selbstherrlichkeit. Für junge Menschen, die stolz
auf ihr eigenes Urteil und nicht vertraut mit der Komplexität der
Quellen und dem Scharfsinn authentischen Gelehrtentums sind, kann
dies zu einer wirksamen Falle werden, die darin mündet, sie vom
traditionellen Weg des Islam weg in ungewollte Verhaltensweisen zu
locken, die tiefe Gräben zwischen den Muslimen aufreißen. Die
Tatsache, daß alle großen Religionsgelehrten, einschließlich der
Hadith-Experten, selbst einem Madhhab angehörten und von
ihren Schülern verlangten, daß sie einem Madhhab angehörten,
scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Die Überheblichkeit hat
einen großen Sieg über den gesunden Menschenverstand und islamisches
Verantwortungsbewußtsein errungen.
Im Heiligen Qur'an wird den Muslimen befohlen,
ihren Verstand und ihre Fähigkeit zu Denken zu nutzen; die Frage des
Befolgens qualifizierten Gelehrtentums ist ein Bereich, in dem diese
Fähigkeiten mit größter Sorgfalt angewendet werden sollten. Als
Ausgangspunkt sollte gewürdigt werden, daß kein grundsätzlicher
Unterschied zwischen Usul al-Fiqh und irgendeiner anderen
spezialisierten, zeitaufwendiges Studium erfordernden
Wissenschaft existiert.
Die Gefährlichkeit des selbst-fabrizierten
Ijtihad
Schaykh Sa´id Ramadan al-Buti, der die Antwort des
traditionellen Islam gegen die anti-Madhhab -Stimmung in
seinem Buch "Nicht-Madhhabismus: Die größte Bid'a als Bedrohung der
islamischen Schari´ah" artikuliert hat, vergleicht die Wissenschaft
der Ableitung von Regeln mit der medizinischen Wissenschaft. Er
fragt : "Wenn jemandes Kind ernsthaft erkrankt ist, sucht er dann
selbst in der medizinischen Fachliteratur nach der zutreffenden
Diagnose und den entsprechenden Heilmitteln, oder sollte er nicht zu
einem ausgebildeten Arzt gehen? " Ein geistig Gesunder wird wohl die
letztere Möglichkeit wählen. Nichts anderes gilt auch in
Glaubensdingen, die in Wirklichkeit noch viel wichtiger und mit viel
größeren potentiellen Gefahren behaftet sind. Wir wären sowohl dumm
als auch verantwortungslos, wenn wir versuchten, selbst die Quellen
auszuwerten und unser eigener Mufti zu werden. Stattdessen
sollten wir einsehen, daß diejenigen, die ihr ganzes Leben damit
verbracht haben, die Sunnah und die Gesetzes-Prinzipien zu studieren
dabei weniger leicht Gefaht laufen Fehler zu machen als
wir.
Ein anderer Vergleich ließe sich hinzufügen,
diesmal aus dem Bereich der Astronomie. Wir könnten den Qur'an und
die Hadithe mit den Sternen vergleichen. Mit dem bloßen Auge können
wir viele von ihnen nicht klar zu erkennen; deshalb brauchen wir ein
Teleskop. Wenn wir dumm sind oder stolz mögen wir versuchen selber
eines zu bauen. Wenn wir jedoch vernünftig und bescheiden sind,
werden wir uns glücklich schätzen, eines zu benutzen, das Imam
Schafi´îoder Ibn Hanbal für uns konstruiert haben und das von
Generationen von großen Astronomen verfeinert, geschliffen und
verbessert worden ist. Ein Madhhab ist kurzgesagt nichts
anderes als ein Präzisions-Instrument, daß uns ermöglicht, den Islam
mit größtmöglicher Klarheit zu sehen.
Und noch ein drittes Bild mag zur Illustration
benutzt werden: Ein uraltes Gebäude, nehmen wir die Blaue Moschee in
Istanbul, mag einigen, die darin ihr Gebet verrichten unvollkommen
erscheinen. Junge Enthusiasten, erfüllt von dem leidenschaftlichen
Wunsch, das Gebäude noch ausgezeichneter und vorzüglicher (und
zweifelsohne mehr ihren eigenen zeitbedingten Vorlieben
entsprechend) zu gestalten, könnten sich Zugang zu den Krypten und
Kellergewölben verschaffen, die der architektonischen Struktur
zugrunde liegen, und auf der Grundlage ihres eigenen Verständnisses
von Prinzipien der Architektur versuchen, die Fundamente und Säulen,
die das großartige Gebäude stützen, zurechtzurücken. Natürlich
werden sie weder Zeit mit der Consultation professioneller
Architekten verschwenden, außer vielleicht einem oder zweien, deren
Rhetorik ihnen zusagt, noch sich von den Büchern und Berichten
derjenigen leiten lassen, die diese Strukturen über Jahrhunderte
hinweg instand gehalten haben. Ihr Eifer und Stolz lassen ihnen dazu
keine Zeit. Sie tasten sich durch die Gewölbe, holen ihre Meißel und
Schlagbohrer hervor und machen sich in ihrem blinden Enthusiasmus an
die Arbeit.
Es besteht eine reale Gefahr, daß dem sunnitischen
Islam ähnliches widerfährt. Das Gebäude hat Jahrhunderte überdauert
und den erbittertesten Angriffen seiner Gegner widerstanden. Nur von
innen heraus kann es geschwächt werden. Zweifelsohne hat der Islam
intelligente Gegner, denen diese Tatsache nur allzu gut bekannt ist.
Das Schauspiel der Uneinigkeit und Fitna , welche die frühen
Muslime trotz ihrer weit größeren Frömmigkeit spalteten, und die
Beständigkeit und der Zusammenhalt des Sunnitentums nach der
Kodifizierung der Schari´ah in Form der vier Rechtsschulen
der großen Imame haben sicherlich eine Menge böswilliger Köpfe auf
eine Idee gebracht. Dies soll in keiner Weise unterstellen, daß
diejenigen, die die großen Madhhabs bewußt Werkzeuge der
Feinde des Islam seien. Aber es könnte teilweise erklären, weshalb
ihre Schriften ständig in riesigen Auflagen publiziert und sie
finanziell mehr als ausreichend versorgt werden, während der
traditionellen Alternative die Mittel fehlen. Wenn jeder Muslim ein
stolzer Mujtahid ist und Taqlid eher als Sünde
abgelehnt denn als bescheidene und notwendige Tugend betrachtet
wird, werden die divergierenden Ansichten, die in unserer frühen
Geschichte so viel Leid verursacht haben, mit Sicherheit wieder
zutage treten. Statt vier Madhhabs in Harmonie miteinander wird es
eine Milliarde Madhhabs in erbittertem und selbstherrlichem
Konflikt gegeneinander geben. Eine intelligenter ausgeklügelte
Strategie zur Vernichtung des Islam könnte es nicht
geben.
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