Über den Frieden von Maulanâ Scheikh Muhammad ´Adil Nazim al-Haqqanî
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Maulana Scheikh
Nazim wurde gefragt: Scheikh Efendi, wir beten immer um Frieden. Wie
können alle verschiedenen Völker in Frieden
zusammenleben?
Bismillahi-Rahmani-Rahim
Deine Frage ist
eine sehr wichtige, und ich danke dir, daß du sie gestellt hast. Es
gibt bei uns ein Sprichwort: „Die Frage ist schon das halbe Wissen.“
Einer, der solche wichtigen Fragen stellt, gibt zu erkennen, daß er
über ein reges geistiges Leben verfügt und einen gewissen Grad an
Aufrichtigkeit besitzt. Natürlich gehören nicht alle Fragen in diese
Kategorie: es gibt Fragen, die nur von Verschlossenheit und
Unwahrhaftigkeit zeugen, die gewünschte Antwort oder ein vorgefaßtes
Urteil sind schon in die Frage miteingebaut. Solche Fragen sind
eigentlich gar keine Fragen, und sie überfallen uns mit
Zentner-Schwere, sie engen die Perspektive unserer Erörterungen nur
ein. Aufrichtige Fragen aber, so wie die eben hier gestellte, hören
und beantworten wir gern.
Wir beten um
Frieden, ihr betet um Frieden, und die Christen beten auch um Frieden. Aber weder
individuell noch in der Gemeinschaft kommt es zu diesem Frieden.
Warum nicht? Für ein jedes Ereignis, das sich in dieser Weise
ereignen soll, müssen zuerst die richtigen Voraussetzungen bestehen.
Friede ist keine Ausnahme von dieser Regel. Damit sich Friede
einstellt, müssen zunächst bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Erst
wenn diese erfüllt sind, erlangst du Frieden in dir selbst und
Frieden mit deiner Umgebung. Solange aber diese Voraussetzungen
nicht gegeben sind, wird Friede nur als eine unerreichbare
Idealvorstellung bestehen.
Die erste
Bedingung für den Frieden unter den Menschen ist, daß einer den
anderen mit Wohlwollen und Toleranz ansieht. Man betrachte nur diese
herrlichen Gärten: auf ein und demselben Stückchen Erde wachsen
viele hundert verschiedene Bäume und Pflanzen. Keine dieser Pflanzen
beschwert sich über die Nähe eines andersartigen Nachbargewächses.
Pflanzen sind nicht fanatisch, sie bestehen nicht darauf, daß alle
Bäume in ihrer Nachbarschaft von ihrer eigenen Art sein
müssen
Wenn Leute
verschiedener Herkunft oder Religion benachbart leben, und wenn
jeder die Rechte des anderen respektiert, dann können Menschen ohne
Probleme nebeneinander leben.
Unser heiliger
Prophet Muhammad – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden - hatte
einen Juden zum Nachbarn. Niemals beschwerte er sich, niemals befahl
er, daß man diesen Juden entfernen sollte und ihn unter
seinesgleichen ansiedeln. Die Handlungen des Propheten sind für uns
das beste Beispiel, und der Prophet –Segen und Friede seien mit ihm
- betonte immer wieder die große Bedeutung guter nachbarschaftlicher
Beziehungen. Im heiligen Qur'ân steht ausdrücklich, daß man an
erster Stelle an seine Nachbarn Hilfe und Almosen verteilen soll.
Daher ist im Islam die Pflege guter Beziehungen zur unmittelbaren
Nachbarschaft ein wichtiges Konzept, denn das gutnachbarliche
Zusammenleben von Menschen verschiedener Rassen und Herkunft läßt
keinen Fanatismus aufkommen. Ihr seid aufgefordert, gute Nachbarn zu
sein.
Ihr habt eure
Religion, euren Lebensstil, eure Überzeugung und ein anderer hat die
seinen. Was eure Unterschiede anbetrifft, so laßt den Herrn darüber
entscheiden; auf jeden Fall aber respektiert euren Nachbarn, und tut
ihm Gutes an. Das ist eure Pflicht. Wenn ihr eure Pflicht getan
habt, dann könnt ihr auch von eurem Nachbarn Gutes erwarten. Schaut
nicht auf dessen Fehler, und kritisiert nicht seine Ansichten und
Überzeugungen, die von den euren abweichen, damit keine Feindschaft
zwischen euch wächst. Laßt den Herrn Richter sein, Er ist der
Richter aller Richter dann wird jeder Fanatismus
absterben.
Ich sitze hier mit
euch zusammen. Wenn ich euch alle als Geschöpfe meines Herrn
betrachte, als einzigartige und vollkommene Ergebnisse Seiner
unvergleichlichen Schöpfungskraft, so wie man eine Rose betrachtet
oder einen fruchttragenden Baum dann finde ich mich in einem
Paradiesgarten, und von jedem Einzelnen geht ein innerer Friede aus,
der auf mein Herz trifft. Wenn wir einander in dieser Weise
betrachten können, kommt es nicht nur zu Toleranz und gegenseitigem
Verstehen, sondern es entsteht auch Vertrautheit und Anerkennung,
und schließlich stellen sich auch Liebe und Frieden
ein.
Weil die Menschen
einander aber nicht als des Herrn unübertroffene und wertvolle
Geschöpfe betrachten, können sich Leute gegenseitig nicht einmal
ertragen, wie denn gar voreinander Respekt haben oder größere
Vertrautheit suchen. "Diese Welt ist für uns beide zu klein" sagt
einer zum anderen, ein Staat zum nächsten. Jeder macht sich selbst
so groß, plustert sich auf und gönnt dem Anderen keine Existenz.
Wegen dieser Einstellung zueinander werden die Menschen immer
schwerer, so daß die Erde die Menschheit bald nicht mehr wird tragen
können. Die Menschheit wird der Erde zu schwer, und zwar nicht auf
Grund von Überbevölkerung, sondern wegen dieser Einstellung und der
Handlungen der Menschen aneinander.
Wir hindern uns
selbst daran, im Anderen Liebenswertes zu sehen und miteinander
vertraut zu werden. Wir betrachten jeden Anderen als eine
potentielle Gefahr für uns selbst, und nicht ais Gottes
Stellvertreter auf Erden. Und umgekehrt, sieht auch der Andere in
uns nur die Gefahr, die ihm von uns droht, und verwehrt uns seine
Zuneigung. Wildheit ist die sich am raschesten ausbreitende
Eigenschaft unter den Menschen, und aus der ungezähmten Wildheit
entsteht die Kälte und Feindseligkeit der Menschen
gegeneinander.
Unser niederes Ich
errichtet Mauern rund um uns, unbezwingbare Schanzen. Zerbrecht
diese Schanzen, um auf den Anderen zuzugehen, um ihn anzuerkennen!
Ihr werdet dann feststellen, daß eure Herzen vor Wonnegefühl
überquellen, und die meisten Leute sich euch von einer besseren
Seite zeigen werden. Solange ihr aber steitsüchtig und von eurem
häßlichen, gierigen, niederen Ich besessen seid, kann keiner euch
erreichen, und ihr könnt genauso wenig auf jemanden zugehen, ohne
ihn zu verletzen. Der erste Schritt ist daher die Arbeit an sich
selbst; es gilt, das niedere Ich in seine Gewalt zu bekommen, damit
es zwischen dir und deinen Mitmensche eine liebenswürdige Beziehung
geben kann.
Einer der großen
Sufi-Meister pflegte auf dem Rücken eines Tigers in der Wüste umher
zu reiten, in der Hand eine Schlange als Peitsche. Wie ist so etwas
möglich? Was ist das Geheimnis?
Allah der Allmächtige gibt
jedem Geschöpf Gefühl und Wahrnehmung. Wenn du dein Inneres öffnen
kannst und dich voll Freundlichkeit zeigst, wird selbst ein reißend
wilder Tiger zahm, und läßt sich als Reittier benutzen. Und nicht
nur der Tiger, sondern auch die Söhne Adams, denen der Herrgott das
Potential verlieh, 'Krone der Schöpfung' und 'Gottes Stellvertreter
auf Erden' zu sein, lassen sich durch Freundlichkeit
zähmen.
Angesichts all der
Bosheit und Wildheit in der Welt, dürfen wir dennoch nicht
verzweifeln und klagen: "Was für ein Gott ist das, der so
schrecklich schlimme Menschen geschafft hat, die einander soviel
Schaden zufügen, massenhaft Gewalttaten verüben und Weltkriege
auslösen?" Wir müssen großmütig sein und versuchen, diese Wilden zu
zähmen. Wer sagt, in der Erschaffung von Tigern ur Schlangen läge
keine göttliche Weisheit? Sagt lieber, daß Er, der Allmächtige,
Tiger und Schlangen zu Reittieren und Reitpeitschen
erschuf!
Es lebte einmal
ein Mann, der wurde sehr von Kakerlaken geplagt. Wo immer er
hinging, fand er diese unguten, schmutzigen Käfer vor. Was auch
immer er unternahm, er wurde diese Plage nicht los. Er bezog in
seiner Heimatstadt mehrmals neues Quartier, in der Hoffnung, daß
seine neue Wohnung diesmal Kakerlakenfrei bleiben würde aber jedes
Mal wurde er enttäuscht. Schließlich verließ er aus Verzweiflung
über diese Heimsuchung sein Vaterland und siedelte in einem Land, in
dem es weniger Kakerlaken gab.
Nach einiger Zeit
erkrankte der Manne und ein schlimmes Geschwür brach an seinem
Bein aus. Er suchte viele Ärzte auf, aber alle Medizin, die sie ihm
verschrieben, verschlimmerte nur seine Beschwerden und reizte den
Abszess mehr. Schließlich gab er alle Behandlungsversuche auf. So
saß er denn eines Tages vor seinem Hause, das wunde Bein
aufgestützt, und jammerte laut. "Ah! Oh! Ah! Oh!" Da zog ein
wandernder Derwisch vorbei, vernahm die Klagelaute und fragte:
“Warum sitzt du da und klagst 'Ah! Oh! Oh! Ah!'?" Der Leidende
antwortete ihm: "Ich habe ein schlimmes Geschwür an meinem Bein, und
nichts und niemand vermag es zu heilen! Von jeder Behandlung wird es
nur schlimmer!"
Der Derwisch
sprach: "Nichts leichter das! Hast du schon mal eine Kakerlake
gesehen?" „Kakerlaken! Ob ich je eine Kakerlake gesehen habe? Der
Fluch meines Lebens! In meinem Heimatlande gab es so viele, daß sie
mich an den Rand des Wahnsinns brachten, und ich hierher floh, bloß
um keine mehr sehen müssen!" Der Derwisch sagte: "Geh und fang dir
eine Anzahl Kakerlaken, töte und verbrenne sie, dann sammle die
Asche und lege sie auf deine Wunde so Gott will, wird sie
schnell verheilen." Der Mann befolgte den Rat des Derwisches, und
machte in jenem Lande Jagd auf Kakerlaken, welche er nur mit großen
Schwierigkeiten auftreiben konnte. Er tat, wie ihm der Derwisch
empfohlen hatte, und bald war das Geschwür verheilt. Seit dieser
Zeit hat er nie wieder auf die Existenz von Kakerlaken
geflucht.
Was die
hochgeehrte Nachkommenschaft Adams - Friede sei auf ihm - anbelangt,
die Allah zu Seinen Stellvertretern auf Erden macht hat, so mußt du
sie nicht wegen ihrer schlechten Handlungen hassen oder verfluchen,
sondern du mußt versuchen, großmütig zu sein und dich daran zu
erinnern, daß dein Herr auch diese Seine Geschöpfe liebt, denn im
heiligen Qur'an steht geschrieben:
"Begegne
Bosheit mit Güte, und siehe, wer jetzt dein Feind ist, wird dein
enger Vertrauter werden. Und keiner kann dies erreichen, es sei denn
der Geduldige; und keiner wird dies erreichen, es sei denn der, dem
gewaltiges Glück zuteil wird"(1)
Wie schon erwähnt,
wohnte der heilige Prophet in Medina neben dem Hause eines Juden.
Der Prophet ertrug dessen Nachbarschaft, obwohl dieser Nachbar ihm
täglich Abfall vor die Tür schüttete, um seiner Geringschätzung für
den Propheten Ausdruck zu verleihen. Eines Tages bemerkte der
Prophet Allahs Segen und Friede seien mit ihm - daß kein Müll vor
seinem Hause lag. Auch am nächsten. Tag war kein Müll zu sehen. Er
fragte nach dem Ergehen seines Nachbarn und erfuhr, daß dieser
erkrankt war. Der heilige Prophet begab sich zum Hause seines
kranken Nachbarn, um ihm einen Krankenbesuch abzustatten. Der Jude
war höchst verwundert, den Propheten bei sich zu sehen und fragte:
"Wie wußtest du von meiner Krankheit?" Der Prophet antwortete: "Als
mir auffiel, daß deine tägliche Gabe vor meinem Hause ausblieb,
dachte ich mir, daß dir womöglich etwas zugestoßen sei. Ich fragte
nach, und man sagte mir du seiest krank."
Was reden wir aber
von solcher Güte gegen Angehörige einer anderen Nation, wo die
heutigen Menschen ja nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Familien
ein vertrautes und leutseliges Verhältnis zu Wege bringen! Frauen
können an ihren Ehemännern keine guten Eigenschaften erkennen, und
umgekehrt ebenso. Eine Familie lebt zwar unter einem Dach zusammen,
aber es fehlt jede Spur von familiärem oder anheimelndem Gefühl. Die
nächsten Verwandten sind einander fremd geworden, jeder ist
verstrickt in die Welt seiner EgoWünsche; eine Welt, in der kein
anderer geduldet wird, es sei denn zu einem egoistischen
Zweck.
Wenn schon in den
Familien keine Vertrautheit besteht, wie soll sie dann in der
erweiterten Gesellschaft auftreten? Es ist unmöglich. Noch
zweckloser ist es, von weltweitem Frieden zu reden. Friede,
Vertrauen und Liebe müssen erst zwischen Individuen bestehen, dann
in den Familien, dem Freundeskreis, usw., bevor sie in der
Gesamtgesellschaft manifest werden können. Friede wird von unten
nach oben aufgebaut, von der kleinsten Einheit aufwärts, und nicht
umgekehrt.
Gewiß, wir beten
um eine friedliche Welt, um das Löschen aller Brände in Ost und
West. Aber die Trennwände der Entfremdung zwischen den Menschen sind
schon so verdickt, daß keine Nation eine wirkliche Freundschaft oder
Zusammenarbeit mit einer anderen in Betracht ziehen kann.
Freundschaftlichkeit ist eingekerkert, stattdessen verbreiten sich
Wildheit und Entfremdung mit rasender Geschwindigkeit, und wenn
dieser reißende Strom nicht sehr bald eingedämmt werden kann, wird
er die ganze Welt davonschwemmen. Dieser wilde Strom stürzt dahin,
und keiner der von uns errichteten Dämme kann ihn aufhalten. Der
Mensch erntet, was er gesät hat: er sät Gewalt und erntet Gewalt,
nicht Liebe und Freundschaft. Der Strom der Gewalt wälzt sich über
die ganze, Erde, er hat alle Bereiche menschlichen Zusammenspiels
bereits überschwemmt ,welches Ergebnis können wir davon erwarten? In
unseren Überlieferungen steht geschrieben, daß sich die Menschheit
in einer Orgie von Gewalttätigkeit zerstören wird, bis das
Eingreifen höherer Gewalt himmlischer Intervention diesem Inferno
Einhalt gebietet.
Frage: Maulana,
was sagen Sie zu den Friedensmärschen und Demonstrationen für den
Frieden? Fördern diese den Frieden, oder sind sie ihm eher
abträglich?
Wenn diese
Demonstranten in sich selbst innerlich befriedet sind, dann können
ihre Bemühungen von Nutzen sein; wenn sie jedoch noch roh und voller
Gewaltsamkeit sind, was kann schon daraus entstehen? Feindseligkeit
und Wildheit werden dadurch nur vermehrt.
Man symbolisiert
den Frieden gern als eine Taube, aber es gibt viele Raubvögel, die
sich die Taube gern schnappen würden. Trifft man keine Vorkehrungen
zum Schutze dieser Taube, so wird 'Friede' zu einem bedeutungslosen
Wort. Dieser Tage marschiert eine große Zahl von schottischen Damen
nach London um des Friedens Willen, ma scha' Allah! So viele Damen
bringen den Frieden aus Schottland! Aber mehr als Stoff für Spott
und schlechte Witze sind solche Demonstrationen leider nicht, denn
in dieser Suche nach dem Frieden geht es nicht ohne göttlichen
Beistand.
Ein Friede muß
gestützt, werden, und, um einen Frieden zu stützen, bedarf es der
Macht: ohne Macht kein Friede. Die allerstärkste Unterstützung, die
ein Friede haben kann, ist die eines vollerwachten geistigen Lebens:
das allseitige Wohlwollen, das in unseren Herzen wächst und seine
Äste über die ganze Welt hin ausbreitet. Von welcher, Bedeutung ist
ein solcher 'Friedensmarsch', ohne ein fruchtbares, tragendes Herz?
Dies sind nur Kindereien, die sowieso keiner ernstnehmen
kann.
Wa min Allah
atTaufiq
(1) siehe Qur’ân, 41:34-35
*Adaptiert
von ´Abd al-Hafidh Wentzel aus “Quellen de Meeres der
Barmherzigkeit”, Sheikh Nazim al-Qubrusi, Konya
1984
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