Über den Neid „Wer ohne
Schuhe ist schaue auf den, der keine Füße
hat“ von Maulana Scheikh Muhammad Adil Nâzim
al-Haqqanî aus dem
Englischen übersetzt von ´Abd al-Hafidh Wentzel
Bismillahi-Rahmani-Rahim
Zweifelsohne ist
von all den Eigenschaften des Egos der Neid die schlimmste, denn
jemand der von Neid erfüllt ist würde sich selbst im Paradies wie in
der Hölle fühlen. Die Ironie bei dieser Eigenschaft ist, daß, je
mehr die Menschen eine beneidenswerte Stellung zu erreichen
scheinen, um so mehr werden sie selbst vom Neid zerfressen. Deshalb
ist der Neid unter den Reichen und Priviligierten am weitesten
verbreitet. Sie mögen sich am ehesten daran stören , daß andere
vielleicht noch reicher oder mächtiger sein könnten als sie selbst.
Sie wollen die Einzigen sein, denen Alles allein gehört. Unter den
gewöhnlichen Leuten ist es normal, die Reichen zu beneiden, doch sie
beneiden einander nicht in dem Maße wie es die oberen Schichten
tun.
Ja, es ist schon erstaunlich, wie diejenigen, die über
eine größere Bildung verfügen und von sich behaupten, mehr zu
verstehen als die Masse, blind sind gegenüber dem Schaden, den sie
sich selbst zufügen und wie sie dem Feuer, daß sie in rasantem Tempo zu verbrennen
droht, keinerlei Beachtung schenken. Wenn sie so intelligent sind,
sollten sie erkennen, daß ihr Herr den Menschen dieses Leben gibt
und sie in unterschiedliche Lebensbedingungen hineinstellt und daß
ihr Herr allen, unabhängig von den äußerlichen Unterschieden in
ihrer Stellung, Ehre verliehen und Würde gegeben hat. Wem auch nur
das kleinste Bißchen an Weisheit verliehen wurde, muß dies einsehen
und sich so vom Neid befreien. Die heiligen Propheten Gottes – Segen
und Friede sei auf ihnen allen – und ihre Erben, die Gottesfreunde,
haben die Menschheit immer wieder an diese Tatsache erinnert: Jeder
Einzelne von ihnen ist dadurch geehrt worden, daß er als
menschliches Wesen erschaffen wurde und er braucht niemand anderen
zu beneiden. Unser Herr fordert uns im heiligen Qur’ân nicht nur
dazu auf, dies zu verstehen, sondern es auch öffentlich zu
verkündenden, wenn Er sagt: „Und verkünde die Wohltat Deines
Herrn!“(1)
Wir waren Nichts
und unser Herr hat uns Existenz verliehen, kann es eine größere
Wohltat geben? Und unser Herr läßt uns wissen, daß alles
Existierende, selbst die Atome, damit beschäftigt ist, Ihn zu
lobpreisen. Auch Atome besitzen Leben, denn ohne Leben ist es
unmöglich, zu existieren. Wir könnten vielleicht sagen, daß das
Leben der Atome eine völlig andere Art von Leben ist als das unsere,
doch auch sie sind in ihrer eigenen Weise vollkommen und lobpreisen
ihren Herrn für dieses Geschenk der
Vollkommenheit.
Diejenigen, denen
Glaubensgewissheit geschenkt wurde und in deren Herzen ein Licht
scheint können sogar wahrnehmen, wie leblose Gegenstände ihren Herrn
lobpreisen. Eines der Wunder, das unserem Propheten Muhammad gewährt
wurde – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken – bestand
darin, daß er eines Tages eine Handvoll Kiesel aufhob und alle
Anwesenden konnten hören, wie diese Kieselsteine ihren Herrn
lobpriesen.
Die gesamte Schöpfung nimmt teil an diesem
Lobpreis: Steine, Erde, Wasser, Pflanzen, Bäume, Blätter, Blumen,
Fische, Vögel, Ameisen, Bienen, alles was Seine Erde belebt, in
Seinen Meeren schwimmt, in Seinen Himmeln fliegt oder sonstwie
Bestandteil Seiner Schöpfung ist, alle sind voll des Dankes, außer
der unzufriedenen Menschheit. Im heiligen Qur’ân heißt es:
„
Ihn lobpreisen die sieben Himmel und die Erde und wer darinnen ist
und es gibt nichts, was nicht Ihn lobpreist, doch ihr versteht ihren
Lobpreis nicht.“ (2) und: „Und
siehst du nicht, wie sich vor Allah verneigt, wer in den Himmeln und
auf der Erde ist, und die Sonne und der Mond und die Sterne und die
Berge und die Bäume und die Tiere und viele von den Menschen? Und
viele verdienen die Strafe und wen Allah erniedrigt, dem kann keiner
Würde geben. Wahrlich Allah tut das, was Er will.“ (3)
Was auffällt, ist,
daß „einige Menschen“ die einzige Ausnahme bilden. Die gesamte
Schöpfung ist von Natur aus ihrem Schöpfer gehorsam und nur der
Menschheit ist die Wahlmöglichkeit gegeben, ihren Herrn zu preisen
und inneren Frieden zu finden oder undankbar zu sein und in den
Höllenfeuern der Unzufriedenheit und des Neides zu leben. Was ist
mit euch, oh ihr undankbaren Menschen? Ihr mögt einen Rolls-Royce
besitzen und in einem prächtigen Palast leben, doch wenn ihr
undankbar seid, seid ihr auf einer Stufe, die niedriger ist als die
Stufe lebloser Objekte. Und es tut mir leid, feststellen zu müssen,
daß der heutzutage weitverbreitete Neid die gesamte Menschheit
zerstört. In unserer Zeit ist jeder, der mit dem Bus fährt mit
Sicherheit neidisch auf die Autobesitzer, wie sollte es auch anders
sein, wenn geistige Werte einen solchen Niedergang erleben.
Scheikh Saadi asch-Schirazi, einer der Sufi-Dichter des
Mittelalters, schrieb über einen Mann, der so arm war, daß er sich
keine Schuhe leisten konnte. Dieser Mann beschwerte sich ständig
über seine Lage, doch je mehr er sich beschwerte, desto weniger fand
sich jemand, der bereit gewesen wäre, ihm Schuhe zu kaufen. Eines
Tages traf er einen Mann, der keine Beine hatte und dieser Anblick
ließ ihn Reue empfinden und er sagte: „ Oh mein Herr, Dank sei Dir,
der Du mir Beine geschenkt hast, mit denen ich laufen kann!“ Ja,
wir müssen die Segnungen, die uns geschenkt wurden,
würdigen!
Vor kurzem
besuchte ich Jemanden, der aufgrund einer unheilbaren Krankheit den
Tod erwartet, dessen Krankheit es ihm unmöglich macht, zu essen und
zu trinken. Wenn dieser Mensch alles Gold der Bank von England
besäße, glaubt ihr nicht, daß er es freudig hingeben würde, wenn er
dadurch sein Leben verlängern könnte? Meint irgendjemand, daß er
sich weigern würde? Ihr müßt würdigen, was euch gegeben wurde! Wäre
einer von euch bereit, mir seine beiden Augen zu geben im Tausch
gegen all dieses Gold? Oder wenn ich ihm anböte, Herrscher über die
ganze Welt zu werden? (Wenn ich solche Macht oder Reichtum für ein
Auge böte, würden sich sicherlich eine Menge dummer Leute zu diesem
Tausch bereit finden.) Welchen Nutzen hätte diese Herrschaft für
dich? Du könntest berühmt werden als „der blinde
König“.
Doch die Menschen
sind ohne Verstand und fragen: „Wieso hat er einen Roll-Royce und
ich nicht?“ „Warum lebt er in einem Palast und ich in einer
Mietwohnung?“ „ Warum ist er Geschäftsinhaber und ich muß für Lohn
arbeiten gehen?“ „Warum ist sie Königin und ich bin Untertan?“ Dankt
Allah, daß er ihre Majestät die Königin auf den Thron gesetzt hat!
Ein weiser Mann hat bemerkt: „Allah hat Seine Diener in der Stellung
plaziert, die Er für sie ausgewählt hat.“
Einer der
bekanntesten Sufi-Scheikhs, Sultan al-Arifin Abu Yazid al-Bistami,
ein Glied in der goldenen Überlieferungs-Kette des
Naqschbandi-Ordens, ging einmal mit seinen Schülern durch eine
schmale Gasse. Plötzlich erschien am anderen Ende, aufgeschreckt von
der Ansammlung so vieler Leute, ein Hund. Abu Yazid trat zur Seite,
um den Hund vorbeizulassen und seine Anhänger taten es ihm nach.
Jemand sagte zu ihm: „ Oh Aba Yazid, ihr seid ein erhabener
Großscheikh und seid mit eurem ehrwürdigen Gefolge unterwegs – wieso
macht ihr einem dreckigen Hund Platz?“ Abu Yazid antwortete, und in
seiner Antwort liegt eine Lehre für die gesamte Menschheit: „Oh
meine Söhne, als dieser Hund auftauchte und sah, daß sein Weg
versperrt war, sagte er zu mir: „Oh Scheikh, sei nicht stolz darauf,
ein Scheikh und ein Mensch zu sein, dessen Stufe weit über der
meinen liegt! Nein, du mußt wissen, daß wir als Geschöpfe beide
gleichwertig sind, denn es ist nur der Schöpfer – dein Schöpfer und
mein Schöpfer – der mich in der Gestalt eines Hundes erschuf und ich
bin ihm dankbar und zufrieden mit meinem Herrn. Er ist es, der dich
als Menschen erschuf, du hast dich nicht selbst in dieser Gestalt
erschaffen, also sei nicht stolz!“ Als der Hund mich in dieser Weise
anredete, fühlte ich mich beschämt vor meinem Herrn und wußte, daß
es falsch ist, auf irgendein Geschöpf herabzuschauen, weil es Allah
ist, der sie alle erschaffen hat.“
Einmal ging ich
mit unsrem Großscheikh durch die Straßen und sah einen Stein auf der
Straße liegen. Weil es eine lobenswerte Handlung ist, Hindernisse
vom Weg zu entfernen, wollte ich ihn entfernen, war aber zu bequem,
mich zu bücken und den Stein mit der Hand aufzuheben. Also trat ich
ihn mit dem Fuß aus dem Weg. Da rief mich Großscheikh zur Ordnung
indem er sagte: „Oh Nazim Efendi, tu das nie wieder! Bedenke, wer
diesen Stein erschaffen hat und verhalte dich
respektvoll!“
Dies ist die
Sichtweise der Leute der Wahrheit, derjenigen, die die Lehren des
Islam vollständig begriffen haben und dieses vollkommene Verständnis
führt dazu, Jeden und Alles in der Existenz zu respektieren. Und
wenn diese Stufe von Respekt einem Hund oder Stein gilt, was ist
dann mit unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen? Wie kann es
unter wahrhaft Gläubigen Neid geben? Es ist unmöglich. Doch wir sind
nur Nachahmer, die etwas imitieren, deshalb breitet sich der Neid in
der Welt-Gemeinschaft aus wie ein Krebsgeschwür im Körper und heute
befällt dieses Geschwür Einzelne, Nationen und die ganze
Welt.
Ihr müßt wissen,
daß es nur üble Eigenschaften sind, die euren Durchbruch verhindern.
Laßt den Neid zurück und ihr könnt auf euer Ziel zugehen und die
Nähe der Engel, Propheten und Gottesfreunde
erreichen.
(1) Qur’ân, 93:11 (2) Qur’ân, 17:44 (3) Qur’ân,
22:18
aus:Sheikh Nazim al-Qubrusi, „Mercy Oceans’ Rising
Sun“, Konya 1986
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