Bismillahi-Rahmani-Rahim
Wohl kaum eine Frage wird seit fast einem Jahr in Diskussionsrunden,
Talkshows, Interviews und Dialogveranstaltungen so oft an Muslime gerichtet wie
die Frage: „Was hat sich für Sie nach dem 11. September verändert?“ Von apologetischen
Erklärungsversuchen über Erfahrungsberichte real-existierender Diskriminierung
und Bedrohung bis hin zur Ablehnung der Fragestellung: „Was soll sich geändert
haben? Nichts! Es gibt immer noch nur Einen Gott und an Ihn glauben wir und auf
Ihn vertrauen wir und das ist Islam!“ erstreckt sich die Bandbreite der
Antworten. Eine erstaunliche Antwort auf diese Frage findet sich in dem hier
wiedergegeben Artikel mit dem verheißungsvollen Titel:
Eine Seele erwacht
von
Laika
Richards
Zum ersten Mal hörte ich von Khadija durch Selman, meinen Ehemann. Aysha
Harrington, eine bekannte amerikanische Verlegerin muslimischer Literatur
besuchte Istanbul auf dem Weg zurück in die USA nachdem sie einige Zeit in Kairo
verbracht hatte. Khadija, eine neu zum Islam gekommene Schwester begleitete sie
auf dieser Reise. Nach dem, was ich von meinem Mann gehört hatte, war die junge
Frau zum Islam gekommen, nachdem sie Augenzeugin des Einsturzes der
Zwillingstürme des World Trade Centers in New York geworden war. Die
Vorstellung, daß jemand nach dem Erleben eines solchen Ereignisses den Islam
angenommen hatte schockierte mich und machte mich gleichzeitig neugierig. Also
beschlossen wir, sie und einige andere Freunde zum Abendessen einzuladen, in
der Hoffnung, sie kennen zu lernen und Einzelheiten ihrer außergewöhnlichen
Geschichte zu erfahren. Nach einem ganzen Tag der Vorbereitungen war es
schließlich an der Zeit und unsere Gäste trafen ein. Verschiedene Grüppchen von
Besuchern kamen an und kurz bevor die letzten unserer Freunde eintrafen
erschien Khadija. Sie war recht groß, eine angenehme Erscheinung, mit ihren
brünetten Haaren und einer Ausstrahlung, die auf große Intelligenz hindeutete.
Ich mochte sie vom ersten Augenblick an und war gespannt darauf, mehr von ihr
zu erfahren. Nach einem etwas hektischen aber doch angenehmen Abendessen luden
wir all unsere Gäste ins Wohnzimmer ein, um ihre Geschichte zu hören. Im
Folgenden gebe ich die Geschichte wieder, wie sie sie uns an jenem Abend
erzählte:
„Ich wurde in Indiana mitten in den USA geboren. Ich hieß Pamela Stearn
und wuchs zusammen mit einer Schwester bei meinen Eltern auf einer Farm auf.
Ich hatte das Glück, viele Cousins und Cousinen zu haben. Unser Leben war ein
einfaches Landleben, altmodisch und natürlich. Andererseits war die Schule, die
ich besuchte modern und städtisch, so daß ich auch dem sehr westlich geprägten
amerikanischen mid-western Lebensstil ausgesetzt war. Meine Familie waren
Presbyterianer und die Kirche spielte in meiner Kindheit eine große Rolle.
Jeden Sonntag gingen wir zur Kirche und obwohl ich mich im spirituellen Sinne
nie wirklich als Christin fühlte, liebte
ich es doch, in die schöne, alte Kirche aus dem 17. Jahrhundert mit
ihren einfachen Holzbänken zu gehen. Die Kirche war voller liebenswerter, hart
arbeitender Menschen. Ihre Vorfahren, auch sie gesegnet mit eben diesen
Eigenschaften, lagen auf dem angrenzenden Friedhof begraben. Während also mein
Leben zuhause in den Jahren meiner Kindheit erfüllt war von den Eindrücken und
Geräuschen des Bauernhofes, der Familie und der Kirche war mein Schul-Leben
geprägt von der modernen mittel-amerikanischen Vorstadt und all den Idealen,
die zu diesem Milieu gehören. Als ich dann in das Alter kam, eine weiterführende
Schule zu besuchen, fuhr ich täglich zu einer großen öffentlichen High School
in eine sehr moderne Stadt. Das Wichtigste im Leben der Menschen um mich herum
war in Autos umherzufahren, Fernsehn zu schauen und Einkaufszentren zu
besuchen. Trotzdem lernte ich unter all diesen vielen Leuten ein paar
wunderbare Freunde kennen. Die Jahre vergingen und mit der Hochschulreife kam
die Zeit, auf eine Universität zu gehen. Ich beschloß, im Osten einen
Studienplatz zu suchen und wurde an der Brown University angenommen. Während
meines zweiten Studienjahres teilte ich mein Zimmer mit einer Studentin aus dem
Iran. Sie war die erste Muslima, die ich kennen lernte. In dieser Zeit lernte
ich viele Leute aus aller Welt kennen und maß der Tatsache, daß sie eine Muslima
war keine besondere Bedeutung bei. Ich erinnere mich jedoch, daß ich sehr
beeindruckt war von ihrer inneren Kraft und Schönheit. Sie erklärte mir auch,
warum sie ein Kopftuch trug und ich war sehr überrascht zu erfahren, daß sie sich aus eigener
Überzeugung entschieden hatte, dies zu tun. Mir wurde bewußt, daß ich, obwohl
ich noch nie zuvor eine Muslima getroffen hatte irgendwo in meinem Bewußtsein
überzeugt war, muslimische Frauen seien schwach, unterwürfig und unterdrückt.
Meine Mitbewohnerin war erstaunlicherweise ganz anders. Dies brachte mich
schließlich dazu, Muslime anders zu sehen.
Mein Studium ging weiter und ich beschäftigte mich speziell mit dem Studium der
Literatur und des Theaters. Ich wollte die Anfänge des Theaters erforschen und
lernte, daß seine Wurzeln in der Kunst der Geschichtenerzähler lagen. Dies
führte mich nach Marrokko, wo ich die historischen Ursprünge der
Geschichtenerzähler studierte. So verbrachte ich die zweite Hälfte meines
Junior Year bei einer muslimischen Familie in Marrokko. Vielleicht könnt ihr es
euch vorstellen: Ich kam in Marrokko an, mitten im Ramadhan, ein Mädchen aus
Indiana, daß kaum sein Zuhause verlassen hatte, außer um zur Schule zu gehen.
Ich hatte keine Ahnung, warum die Leute nicht zu gewöhnliche Zeiten aßen, keine
Ahnung, warum sie beim Essen auf dem Boden saßen, keine Ahnung, was dieser
außergewöhnliche Gesang alle drei Stunden bedeutete und mir wurde auch kaum
etwas davon erklärt. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, nur mit der rechten
Hand zu essen und nicht mit der linken und die Leute immer mit „Salams“ zu begrüßen, wenn ich in ein Zimmer kam. All
diese Dinge beeindruckten mich sehr stark, weniger im intellektuellen als im
spirituellen Sinne. Donnerstag nachts blieb ich die ganze Nacht auf, um den Gebetsrufen
zu lauschen. Diese Schwingungen oder Töne des Lebens um mich herum fingen an,
mein Bewußtsein zu durchdringen.
Von Marrokko aus hatte ich die Gelegenheit nach Timbuktu in Mali zu reisen.
Obwohl diese Reise sehr gefährlich war und ich meinen Eltern nie erzählt habe,
daß ich dorthin gefahren bin, traf ich unterwegs Menschen, die außerordentlich
freundlich und großzügig waren, mir zu essen gaben und mir Unterkunft gewährten
ohne dafür irgendeine Gelegenleistung zu erwarten. Obwohl wir nicht einmal eine
gemeinsame Sprache hatten um uns zu verständigen waren sie stets hilfsbereit.
Ich fand das wirklich bemerkenswert. Und all diese Menschen waren Muslime.
Als wir in Timbuktu ankamen, sah ich dort die Moscheen, wunderbare uralte Moscheen, voller Silberarbeiten und
Holzschnitzereien. All diese Bilder setzten sich in meinem Gedächtnis fest und
später träumte ich immer wieder von den Dingen, die ich gesehen hatte.
Ich kehrte dann zurück nach Casablanca und beendete dort mein Semester. Als ich
nach Amerika zurückkam war ich schockiert. Schockiert in einer anderen Weise:
Ich wunderte mich darüber, wie jeder allein von seinem Teller aß anstatt zu
teilen, und daß die Leute ihre Schuhe im Haus trugen, statt sie draußen vor der
Türe auszuziehen. All dies kam mir so merkwürdig vor und ich merkte, daß ich
mich verändert hatte.
Schließlich brachte ich, Gott sei Dank, mein Studium an der Brown University
zuende und reiste nach meinem Abschluss nach Zentralamerika. Ich sehnte mich
danach, mich an einem anderen Ort als den USA auf die natürliche Welt zu
besinnen. Das Vorstadtleben, an das ich gewöhnt war, hatte so etwas
plastikartig-künstliches und materialistisches und ich spürte das Bedürfnis
mich für eine Zeit gänzlich aus dieser Umgebung zu entfernen, bevor ich mich
wieder in das amerikanische Leben stürzte.
Im letzten Herbst, als ich aus Zentralamerika zurückkam, zog ich dann nach New
York. Während der ganzen Zeit meines Universitätsstudiums hatte ich über die
Weltreligionen – einschließlich des Islam – gelesen. Am Anfang meiner Lektüre über den Islam hatte ich Bücher von Dr.
Seyyid Hossein Nasr gelesen, der mich letztendlich tief beeindruckte. Ich las
auch Sufi-Dichtung, vor allem Rumi. Später lernte ich Aysha Harrington aus
Kentucky kennen, eine Amerikanerin, die muslimische Literatur herausbringt. Als
ich sie zuhause besuchte, begegnete ich wieder dieser Art von Großherzigkeit,
die ich niemals außerhalb der muslimischen Welt gesehen hatte. Ich kann sie nur
als eine Art „reinen Gebens“ beschreiben. Sie erzählte mir mehr über den Islam
und gab mir auch einige Bücher zu lesen.
Zu dieser Zeit arbeitete ich in New York an verschiedenen Theaterprojekten und
schrieb auch etwas. Allerdings war mir leider während des Sommers das Geld
ausgegangen und infolgedessen entschloß ich mich eine Teilzeit-Stelle bei einer
Anwaltskanzlei anzunehmen. Unangenehm daran war, daß ich gezwungen war, nach
New York City zur Wall Street oder zum Broadway hineinzufahren. Dort ist das
Leben von Hektik geprägt. Alles geht unglaublich schnell und funktioniert
äußerst präzise. Die Leute versuchen in kürzester Zeit möglichst viele
Geldbündel zu machen indem sie ihre Deals in rasendem Tempo abwickeln. Es ist,
als würde sich die Welt so schnell um sich selbst drehen, daß man keine Luft
mehr kriegt. Trotz alledem nahm ich einen vorübergehenden Job in Wall Street
an, denn auch ich brauchte etwas schnelles Geld.
Mein erster Arbeitstag, es war Anfang September, war ein unglaublich schöner
Tag. Der Himmel war kristallklar und königsblau. Ich stand sogar morgens um
sechs Uhr auf, um Joggen zu gehen, was ich sonst nie tue. Auf dem Weg nach
Manhattan fuhr ich mit der U-Bahn von Brooklyn ins Stadtzentrum. Sie hielt und
wir stellten uns alle an für die nächste U-Bahn. Jeder war mit sich selbst
beschäftigt. Ich kaufte mir meinen Morgenapfel und las in einem Buch. Die
U-Bahn hielt wieder und ich stieg am Fuße des World Trade Centers aus. Die
Gebäude waren gigantisch. Als ich an ihnen heraufschaute, sah ich etwas wie
Rauch aus einem der Türme aufsteigen und fragte mich, wie sie wohl die
Feuerwehrschläuche da hinaufkriegen würden um das Feuer zu löschen. Während ich
mich noch wunderte, wie sie wohl all die Schläuche die vielen Treppen hochbringen würden gab es einen Knall und
der ganze Himmel wurde schwarz. Dann gab es eine gewaltige Erschütterung.
Keiner wußte, was los war. Plötzlich konntest du nicht mehr die Hand vor Augen
sehen, alle fingen an zu schreien und zu rennen und im nächsten Moment wurde es
sehr ruhig und still und ein tiefes Gefühl der Demut lag in der Luft. Es war,
als wäre uns allen als Gruppe in einem Augenblick bewußt geworden, daß jeden
Moment das Ende der Welt sein könnte. Und so nahmen wir die Hand des Nächsten
der neben uns stand, alle bedeckt mit grauer Asche als gehörten wir alle der
gleichen Rasse an, ohne alle Klassenunterschiede, und liefen mit dem in unseren
Herzen neuerwachten Bewußtsein der völligen Unsicherheit des Lebens. Und der
einzige Gedanke und alles was mir ins Herz kam war der göttliche Name: „Allah“.
Als der zweite Turm einstürzte spürte ich das Zusammenbrechen der erdrückenden
materiellen Welt. Gedanken wie: „Du kannst dich nicht auf die Regierung
verlassen“ oder: „Du kannst dich nicht auf die Brücke verlassen“ oder: „Du
kannst dich auf nichts verlassen“ schossen mir durch den Kopf. Und dann, auf
einmal, erhielt all das worüber ich gelesen hatte eine neue Bedeutung. Das
geschriebene Wort war zur lebendigen Wirklichkeit geworden, zu einer
„Lebenserfahrung“, ich erfuhr in meinem Herzen einen stillen Frieden –
Vertrauen auf Allah.
Ich blieb noch drei Wochen in New York City. Dann umarmte ich zum Abschied
meine lieben Freunde von Herzen und machte mich auf den Weg nach Hause in
Indiana. Während meiner letzten Tage in New York bemerkte ich, daß die Stadt
vollkommen verwandelt war. Ich spürte eine große Liebe und Mitgefühl zwischen
allen Menschen. Selbst völlig Fremde waren bereit, einander zu helfen. Jeder
öffnete sein/ihr Herz für die Möglichkeit der Liebe. Mit diesem Eindruck ging
ich zurück an meinen Geburtsort, in meine Heimat nach Indiana um mich auf einen
Schritt vorzubereiten, auf den ich mein ganzes Leben gewartet hatte, den
Schritt in den Islam.“
Am Ende unserer Begegnung waren wir alle bewegt und beeindruckt. Der Weg dieses
Menschen hatte uns inspiriert und wir waren dankbar, daß sie diese Erfahrungen
mit uns geteilt hatte. Es sind Momente wie dieser, in denen man die wahre
Bedeutung von „Al-Hamdulillah“ erfahren kann.
Aus „Altinoluk“, English Edition
No. 32, übersetzt von ´Abd al-Hafidh Wentzel